Die Frage der nationalen Identität der Oberschlesier ist komplex und vielschichtig. Sie lässt sich nicht mit einem einfachen Entweder-Oder beantworten. Vielmehr zeichnet sich die oberschlesische Identität gerade durch ihre Mehrfachprägungen und Zwischenstellungen aus.

Historische Prägungen

Die Identität der Oberschlesier ist das Ergebnis einer wechselvollen Geschichte und verschiedener kultureller Einflüsse:

  • Slawische Ursprünge: Die ursprüngliche Bevölkerung Oberschlesiens waren slawische Stämme wie die Opolanen und die Golensizen. Bis heute prägen slawische Wurzeln die oberschlesische Kultur und Sprache.
  • Deutsche Besiedlung: Im Mittelalter kam es zu einer starken deutschen Zuwanderung nach Oberschlesien. Die deutschen Siedler brachten ihre Sprache, ihr Recht und ihre Kultur mit, die sich nach und nach mit den slawischen Elementen vermischten.
  • Böhmische und österreichische Herrschaft: Vom 14. bis zum 18. Jahrhundert stand Oberschlesien unter böhmischer und später österreichischer Herrschaft. In dieser Zeit gab es starke Einflüsse aus dem tschechischen und mährischen Raum.
  • Preußische Provinz: Nach dem Übergang an Preußen 1742 setzte eine verstärkte Germanisierung Oberschlesiens ein. Gleichzeitig blieb die Region aber mehrheitlich katholisch und behielt viele slawische Traditionen bei.

Nationale Indifferenz

Lange Zeit spielte die nationale Zugehörigkeit für die meisten Oberschlesier keine entscheidende Rolle. Wichtiger waren die regionale Identität, die Religion und die sozialen Bindungen:

  • "Zwischenstellung" der Oberschlesier: Viele Oberschlesier fühlten sich weder als Deutsche noch als Polen, sondern als etwas dazwischen. Sie sahen sich als eigene Gruppe mit einer besonderen Kultur und Sprache.
  • Bindung an die Heimat: Für die meisten Oberschlesier war die Verbundenheit mit ihrer Heimatregion wichtiger als die Zugehörigkeit zu einem nationalen Staatsverband. Sie fühlten sich in erster Linie als Oberschlesier.
  • Religiöse Identität: Die Mehrheit der Oberschlesier war und ist katholisch. Die gemeinsame Religion schuf ein starkes Band, das nationale Gegensätze überbrückte.
  • Soziale Prägungen: Viele Oberschlesier definierten sich über ihre soziale Stellung, etwa als Arbeiter oder Bauern, und weniger über ihre nationale Zugehörigkeit.

Nationalisierung und Konflikte

Mit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert geriet die "nationale Indifferenz" der Oberschlesier unter Druck:

  • Deutscher und polnischer Nationalismus: Deutsche wie polnische Nationalisten versuchten, die Oberschlesier für ihre Sache zu gewinnen. Sie sahen in ihnen "Volksgenossen", die es für die eigene Nation zu vereinnahmen galt.
  • Spaltung der Gesellschaft: Die nationale Frage führte zu einer Spaltung der oberschlesischen Gesellschaft. Familien und Freundeskreise zerbrachen an der Frage der nationalen Zugehörigkeit.
  • Gewalt und Vertreibung: Im 20. Jahrhundert wurde Oberschlesien zum Schauplatz nationaler Konflikte und Gewaltexzesse. Höhepunkte waren die Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach 1945.
  • Nationale Festlegung: Spätestens nach 1945 sahen sich viele Oberschlesier gezwungen, sich national festzulegen – sei es als Deutsche oder als Polen. Eine Zwischenstellung schien nicht mehr möglich.

Oberschlesische Identität heute

Doch trotz aller Verwerfungen und Konflikte hat sich bis heute eine eigenständige oberschlesische Identität behauptet:

  • Bekenntnis zur schlesischen Nationalität: Bei der Volkszählung 2011 gaben über 800.000 polnische Staatsbürger "schlesisch" als ihre Nationalität an. Für sie ist die schlesische Identität mehr als nur ein Bekenntnis zur regionalen Heimat.
  • Erhalt der Mehrsprachigkeit: Für viele Oberschlesier ist die Zwei- und Mehrsprachigkeit bis heute eine Selbstverständlichkeit. Sie sprechen sowohl Deutsch als auch Polnisch und pflegen den schlesischen Dialekt.
  • Verbundenheit mit deutscher Kultur: Viele Oberschlesier fühlen sich der deutschen Sprache und Kultur, aber auch der deutschen Mentalität und Lebensart verbunden. Sie sehen darin keinen Widerspruch zu ihrer schlesischen oder polnischen Identität.
  • Europäische Orientierung: Für viele Oberschlesier ist ihre Heimat heute vor allem eines: eine europäische Region. Die nationale Zuordnung tritt dahinter zurück. Sie sehen in der europäischen Einigung die Chance, nationale Gegensätze zu überwinden.

Ein Modell für Europa?

Gerade in seiner Vielschichtigkeit und seinem Brückencharakter könnte Oberschlesien zu einem Modell für das Europa der Zukunft werden:

  • Akzeptanz von Mehrfachidentitäten: Oberschlesien zeigt, dass regionale, nationale und europäische Identitäten keine Gegensätze sein müssen, sondern einander ergänzen und bereichern können.
  • Transnationale Verflechtungen: Mit seinen vielfältigen Verbindungen nach Deutschland, Polen und Tschechien ist Oberschlesien ein Beispiel für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Verflechtung in einem geeinten Europa.
  • Wertschätzung von Diversität: Oberschlesien steht für den Respekt und die Wertschätzung kultureller und sprachlicher Vielfalt. Es zeigt, dass Diversität keine Bedrohung, sondern eine Stärke ist.
  • Überwindung von Nationalismen: Nicht zuletzt kann Oberschlesien ein Laboratorium dafür sein, wie nationalistische Denkweisen und Konflikte überwunden werden können. Der Schlüssel dazu liegt in der Anerkennung und Förderung regionaler Identitäten.

Die Frage "Deutsche oder Polen?" greift für Oberschlesien zu kurz. Die oberschlesische Identität ist ein komplexes Geflecht aus regionalen, nationalen und europäischen Bezügen. Gerade in ihrer Mehrschichtigkeit liegt ihre Besonderheit und ihr Reichtum. Ein Reichtum, von dem auch das Europa der Zukunft lernen kann.