Parallel zur Wiederentdeckung der deutschen Identität in Oberschlesien formierte sich nach 1989 eine Bewegung, die für mehr regionale Selbstbestimmung und die Anerkennung einer eigenständigen schlesischen Nationalität eintritt – die Schlesische Autonomiebewegung.
Anfänge und Ziele
Die Schlesische Autonomiebewegung (poln. Ruch Autonomii Śląska, RAŚ) wurde 1990 gegründet und knüpft an die Traditionen der Autonomen Woiwodschaft Schlesien in der Zwischenkriegszeit an:
- Mehr Selbstverwaltung: Die RAŚ fordert mehr politische und wirtschaftliche Kompetenzen für die oberschlesische Region. Sie strebt eine Autonomie nach dem Vorbild der spanischen Regionen oder der deutschen Bundesländer an.
- Schutz der regionalen Identität: Die Bewegung setzt sich für den Erhalt und die Förderung der schlesischen Sprache, Kultur und Identität ein. Sie fordert die Anerkennung des Schlesischen als offizielle Regionalsprache und die Einführung schlesischer Kulturinstitutionen.
- Europäische Ausrichtung: Die RAŚ sieht Oberschlesien als europäische Region, die von der engen Zusammenarbeit mit den Nachbarländern Deutschland und Tschechien profitieren kann. Sie strebt keine Abspaltung von Polen an, sondern mehr Selbstbestimmung innerhalb eines föderalen polnischen Staates.
- Überwindung nationaler Gegensätze: Für die Autonomiebewegung ist die schlesische Identität nicht primär deutsch oder polnisch geprägt, sondern eine eigenständige regionale Identität, die nationale Gegensätze überwindet und verschiedene kulturelle Einflüsse integriert.
Erfolge und Rückschläge
In den vergangenen drei Jahrzehnten konnte die Schlesische Autonomiebewegung einige Erfolge verbuchen, musste aber auch Rückschläge hinnehmen:
- Wahlerfolge: Seit den 1990er Jahren ist die RAŚ in den Lokal- und Regionalparlamenten Oberschlesiens vertreten. Bei den Woiwodschaftswahlen 2010 erreichte sie in der Woiwodschaft Schlesien 8,5 Prozent der Stimmen und zog mit drei Abgeordneten in den Woiwodschaftssejmik ein.
- Volksabstimmung zur Autonomie: Im Jahr 2011 initiierte die RAŚ eine Volksabstimmung zur Ausweitung der Autonomierechte Oberschlesiens. Zwar sprach sich eine Mehrheit der Abstimmenden dafür aus, doch das Referendum scheiterte an zu geringer Beteiligung.
- Anerkennung der schlesischen Nationalität: Ein zentrales Anliegen der RAŚ ist die Anerkennung einer eigenständigen schlesischen Nationalität. Doch der polnische Staat und die Gerichte verweigern dies bislang und verweisen auf die fehlende Kodifizierung der schlesischen Sprache.
- Konflikte mit Warschau: Die Forderungen der Schlesischen Autonomiebewegung stoßen bei der polnischen Zentralregierung auf Widerstand. Nationalkonservative Kräfte sehen darin eine Bedrohung der nationalen Einheit Polens und unterstellen der RAŚ separatistische Tendenzen.
Unterstützung und Allianzen
Um ihre Ziele zu erreichen, setzt die RAŚ auf Unterstützung und Allianzen innerhalb und außerhalb Polens:
- Zusammenarbeit mit der deutschen Minderheit: In einigen Regionen arbeitet die RAŚ eng mit den Verbänden der deutschen Minderheit zusammen. Beide eint das Eintreten für die regionale Identität und Mehrsprachigkeit Oberschlesiens.
- Mitgliedschaft in der EFA: Seit 2004 ist die RAŚ Mitglied der Europäischen Freien Allianz (EFA), einem Zusammenschluss regionalistischer und Minderheitenparteien in Europa. Über die EFA erhält die Bewegung wichtige Impulse und kann ihre Anliegen auf europäischer Ebene vorbringen.
- Kontakte nach Deutschland und Tschechien: Die RAŚ pflegt enge Kontakte zu politischen Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Kulturvereinen in Deutschland und Tschechien. Sie wirbt bei den Nachbarn um Verständnis und Unterstützung für ihre Anliegen.
- Kooperation mit anderen Regionalisten: Die Autonomiebewegung arbeitet mit ähnlichen Organisationen in anderen Regionen Polens zusammen, etwa in Kaschubien oder in den Beskiden. Gemeinsam setzen sie sich für eine Dezentralisierung und Regionalisierung des polnischen Staates ein.
Gesellschaftliche Verankerung
Die Ideen der Schlesischen Autonomiebewegung fallen in Oberschlesien auf fruchtbaren Boden:
- Rückhalt in der Bevölkerung: Umfragen zeigen, dass die Zustimmung zu den Forderungen der RAŚ in der oberschlesischen Bevölkerung wächst. Viele Menschen wünschen sich mehr Mitsprache und Selbstbestimmung in regionalen Angelegenheiten.
- Kulturelle Renaissance: Die Autonomiebewegung ist Teil einer breiteren kulturellen Renaissance in Oberschlesien. Immer mehr Menschen entdecken die schlesische Sprache, Musik und Lebensart neu und sind stolz auf ihre regionale Identität.
- Wirtschaftliche Unzufriedenheit: Viele Oberschlesier fühlen sich von der Zentralregierung in Warschau wirtschaftlich vernachlässigt. Sie erhoffen sich von einer größeren Autonomie einen faireren Anteil an den Steuereinnahmen und mehr Investitionen in die Zukunft der Region.
- Generationenwandel: Gerade jüngere Oberschlesier stehen den Ideen der RAŚ aufgeschlossen gegenüber. Für sie ist die schlesische Identität kein Widerspruch zur europäischen Integration, sondern eine Chance auf mehr Mitsprache und Gestaltungsmöglichkeiten in einem Europa der Regionen.
Vision für die Zukunft
Die Schlesische Autonomiebewegung ist zu einem wichtigen politischen und gesellschaftlichen Faktor in Oberschlesien geworden. Ihre Vision ist die einer selbstbewussten, weltoffenen Region im Herzen Europas:
- Autonomie als Chance: Für die RAŚ ist die Autonomie kein Selbstzweck, sondern eine Chance auf mehr Demokratie, Bürgerbeteiligung und regionale Entwicklung. Sie soll Oberschlesien helfen, seine Potenziale zu entfalten und die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.
- Brücke zwischen West und Ost: Als autonome Region könnte Oberschlesien seine Mittlerrolle zwischen Deutschland und Polen, zwischen West- und Osteuropa noch besser wahrnehmen. Die kulturelle und sprachliche Vielfalt der Region wäre dabei ein wichtiges Kapital.
- Modell für Europa: Oberschlesien könnte zu einem Modell für ein Europa der Regionen werden, in dem die gewachsenen historischen und kulturellen Identitäten geachtet und gefördert werden. Ein Europa, das seine Vielfalt als Stärke und Chance begreift.
- Versöhnung und Verständigung: Nicht zuletzt sieht sich die RAŚ in der Tradition der Versöhnung und Verständigung. Gerade in Oberschlesien mit seiner leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist das Eintreten für ein friedliches und partnerschaftliches Miteinander von Deutschen, Polen und Schlesiern ein zentrales Anliegen.
Die Schlesische Autonomiebewegung steht für ein modernes, selbstbewusstes Oberschlesien, das seine Identität nicht verleugnet, sondern als Reichtum und Chance begreift. Ein Oberschlesien, das fest in Europa verankert ist und seinen Beitrag zu einem Europa der Regionen, der Bürger und der Verständigung leistet. Dafür lohnt es sich zu streiten – gestern, heute und morgen.