Das 20. Jahrhundert war für Oberschlesien eine Zeit der Umbrüche, Konflikte und Tragödien. Die Region wurde zum Spielball der Großmächte und zum Schauplatz nationaler Auseinandersetzungen, die tiefe Wunden hinterließen.
Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
Bereits das Ende des Ersten Weltkriegs brachte für Oberschlesien einschneidende Veränderungen:
- Teilung der Region: Aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags wurde Oberschlesien 1922 zwischen dem Deutschen Reich und der neu entstandenen Zweiten Polnischen Republik aufgeteilt. Eine Volksabstimmung unter der Aufsicht des Völkerbunds sollte über die nationale Zugehörigkeit der Region entscheiden.
- Polnische Aufstände: In den Jahren 1919, 1920 und 1921 kam es zu drei polnischen Aufständen, die darauf abzielten, vollendete Tatsachen zu schaffen und Oberschlesien an Polen anzuschließen. Es kam zu erbitterten Kämpfen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
- Spaltung der Bevölkerung: Die Frage der nationalen Zugehörigkeit spaltete die oberschlesische Gesellschaft. Familien und Freundeskreise zerbrachen, es kam zu Denunziationen und Gewaltakten zwischen den national gesinnten Gruppen.
NS-Diktatur und Zweiter Weltkrieg
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland begann für ganz Schlesien eine Zeit der Unterdrückung und des Terrors:
- Gleichschaltung und Germanisierung: Nach 1933 erfolgte eine rasche Gleichschaltung der Verwaltung, Vereine und Kultureinrichtungen. Polnischsprachige Zeitungen und Schulen wurden verboten, slawisch klingende Orts- und Familiennamen zwangsgermanisiert.
- Verfolgung der polnischen Minderheit: Die polnische Minderheit in Ostoberschlesien wurde systematisch diskriminiert und verfolgt. Führende Vertreter wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.
- Besetzung und Zwangsarbeit: Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 besetzte Deutschland auch den zuvor polnischen Teil Oberschlesiens. Tausende Polen und Juden wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet oder in Vernichtungslager deportiert.
- Kriegsende und Flucht: Mit dem Vorrücken der Roten Armee setzte ab Januar 1945 eine Massenflucht der deutschen Bevölkerung ein. Bis Kriegsende verließen etwa 1,5 Millionen Menschen Schlesien in Richtung Westen.
Unter polnischer Verwaltung
Nach 1945 wurde Schlesien östlich der Oder-Neiße-Linie unter polnische Verwaltung gestellt. Für die verbliebene deutsche Bevölkerung begann eine schwere Zeit:
- Vertreibung und Zwangspolonisierung: Bis 1950 wurden fast alle verbliebenen Deutschen vertrieben. Wer bleiben wollte, musste sich einem Verifizierungsverfahren unterziehen und seine polnische Nationalität nachweisen. Die deutsche Sprache und Kultur wurden rigoros unterdrückt.
- Ansiedlung von Polen: Gleichzeitig siedelten sich Millionen Polen in Schlesien an, viele von ihnen selbst Vertriebene aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten. Es kam zu Spannungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen.
- Zerstörung der historisch gewachsenen Kulturlandschaft: Auch die über Jahrhunderte gewachsene deutsche Kulturlandschaft in Schlesien wurde weitgehend zerstört. Historische Bauwerke verfielen, Friedhöfe und Denkmäler wurden abgeräumt, deutsche Inschriften getilgt.
Verfolgung in der Volksrepublik
Auch unter der kommunistischen Herrschaft in der Volksrepublik Polen blieb die Lage der verbliebenen Deutschen und der Schlesier prekär:
- Diskriminierung und Überwachung: Deutsche und Schlesier standen unter Generalverdacht der Illoyalität. Sie waren Diskriminierungen im Alltag, beruflichen Benachteiligungen und einer ständigen Überwachung durch den Geheimdienst ausgesetzt.
- Zwangsassimilierung: Wer nicht als Deutscher erkannt werden wollte, musste seine Identität verbergen. Der Gebrauch der deutschen Sprache - auch des schlesischen Dialekts - war verpönt und wurde mitunter bestraft. Eine Pflege deutscher Traditionen fand nur im Verborgenen statt.
- Massenausreise in die Bundesrepublik: Viele Oberschlesier sahen angesichts dieser Verhältnisse keine Zukunft mehr in der Heimat. Bis 1990 verließen etwa 1,1 Millionen Menschen die Region in Richtung Westdeutschland - ein Aderlass, der bis heute nachwirkt.
Die Tragödie Oberschlesiens im 20. Jahrhundert ist die Geschichte einer Region, die zum Spielball der Nationalismen wurde. Die Bevölkerung wurde hin- und hergerissen, gegeneinander aufgehetzt und schließlich entwurzelt. Identitäten wurden gebrochen, Familien zerrissen, eine einzigartige Kulturlandschaft ging unwiederbringlich verloren.
Und doch erwies sich die oberschlesische Identität als erstaunlich widerstandsfähig. Bis heute bekennen sich viele Menschen in der Region zu ihrer besonderen Geschichte und Kultur - trotz aller Verwerfungen und Verletzungen. Sie sehen sich als Brückenbauer in einem zusammenwachsenden Europa, das Lehren aus den Tragödien der Vergangenheit gezogen hat. Versöhnung, Verständigung und regionale Selbstbestimmung sind die Schlüssel dafür, dass sich die Tragödien des 20. Jahrhunderts nicht wiederholen. Oberschlesien kann dabei eine Vorreiterrolle spielen.